Der Waldläufer

Kostprobe zur Lesung aus meinem Buch „Der Duft der warmen Zeit“ am 4. Oktober in der Zehdenicker Klosterscheune, 16 Uhr.

Kopfbanner zur Geschichte.

Der Waldläufer

Geisterhaft quoll Dunst aus dem Döllnfließ, so als ob es Herbst werden wollte. Aber es war noch Sommer, wenn auch ein kühler, bedeckter Tag. Ein erdiger Geruch hing in den satten Moorwiesen, in denen dicke Binsenbündel wie lauernde Kobolde hockten. Hier tropfte der Morgen im Tau, doch der tiefgrüne Kiefernwald am Rande knisterte stumpf und trocken. Die Sommerhitze der letzten Tage hatte ihm alle Feuchte entzogen, ein Funke nur, und er stünde in Flammen. Dürre Äste knackten und der Boden staubte unter seinem festen Schritt. Oskar Frese war schon Stunden unterwegs. Auf dem Eichendamm traf er einen meckernden Eichkater und die Eidechsen raschelten versteckt im Saum der ersten trockenen Blätter. Der Tag war noch leise. Das Döllnfließ floss unberührt durch die wieder ansteigende Dünenlandschaft, in der noch Wachtelkönig, Schreihadler, Wiedehopf, Zaunkönig, Wanderfalke und sogar Schwarzstörche lebten. Im Birken- und Holunderhain pickten Kraniche nach Samen, aber dem Biber war er nicht begegnet, nur den Spuren seines Aufbruchs. Leider. Die Bauern hatten seinen Damm in der großen Wiesensenke zerstört. Oskar war sauer, es hätte ein schöner See entstehen können. Aber der Bauer brauchte sein Grünland. Das gilt immer noch – Besitz – dachte der Waldläufer bei sich, doch die Zeitläufe und Gewissheiten von Generationen sind unzuverlässig geworden.

Er war an der blauen Brücke angekommen und verschnaufte einen Augenblick. Unten im Fließ badeten die Sonnenfunken, aber dort, er wagte sich kaum zu bewegen, fischte auch ein Eisvogel. Oskar stellte langsam das Objektiv scharf und hielt die Luft an: Klack, klack, klack. Der Aufstieg des blauen Vogels und sein Druck auf den Auslöser verschmolzen – ein Seelenkuss, ein Ziehen im Leib, dann konnte er erst wieder ausatmen. Der Mann prüfte die Aufnahmen im Display, lächelte kurz, denn die Schnappschüsse waren gelungen. Stille Freude überkam den alten Fotografen, doch dann mischten sich wieder bohrende Sorgen in seine Gedanken. Er erinnerte sich an seinen Meister, wie jener über Jahrzehnte sein Fotoarchiv fütterte, wissend, es würde ihn im Alter ernähren. Doch er hatte sich geirrt. Die Digitalisierung der Bilder zersetzte den Berufsstand. Seit dem Millennium herrschte die Inflation der Bilder. Nur wenige Fotografen konnten noch von ihrer Passion leben. Und auch viele andere kreative Berufe schmolzen dahin, verloren an Wert. Was sollte er Tim raten? „Sohn, geh‘ in irgendeine sichere Verwaltung? Der Junge ist ein Kreativer, er wird sich nicht in ein strenges Korsett pressen lassen“, murmelte Frese dunkel vor sich hin. Er fuhr sich mit der flachen Hand über das struppige Haar, und zupfte den Gummi fester, der seine graue Mähne zusammenhielt. Grübelnd lief er weiter durch die Senke am Fließbogen. Man müsste ganz anders zum Lernen als Erwachsener stehen, dass Veränderung bereichert und nicht den Alltag verunsichert. Das hatte er selbst nie gut gekonnt. Er hat jedes Update in seiner Firma als existenzielle Bedrohung empfunden. Vielleicht war es das ja auch, weil die Technik stets nur stolpernd neu einsetzte, und ihr Mangel seine Nerven fraß. Kann es ein gutes Leben in einer verdichteten Zeit geben, die den Wandel in Höchstgeschwindigkeit vorantreibt? Oskar Frese lief und lief. Er suchte in der Ruhe des Schorfheidewaldes nach Antworten, die es nirgends gab.

Das satte Grün lag in sommerlicher Lethargie. Selbst die Vögel hielten sich nach ihrer Frühjahrsbalz in den heißen Tagesstunden mit ihrem Gezwitscher zurück. Der nachsinnende Mann hörte nur seine eigenen Schritte. Kein Rauschen in den Wipfeln und auch kein heranwehendes Getöse vom Autofluss auf der nahen Landstraße Richtung Norden. Einfach nichts, keinen Laut. Er kam an seiner Lieblingskiefer vorbei, einer bizarren Burkussel*, gewachsen wie ein üppiger Busch. Die hätte der Förster längst als nutzlose Missgestalt schlagen lassen, wenn Frese nicht dessen farbige Kennzeichnung abgewaschen hätte. Jetzt ist die Bauernkiefer zu einer viel bestaunten Schönheit herangewachsen. Gegen alle Norm. „Es geht nur mit starkem Selbstvertrauen“, sprach er leise vor sich hin. „Vielleicht indem man frühzeitig alle seine Talente lebendig hält, um im Trab die Pferde wechseln zu können, wenn nötig oder wenn gewollt. Kann man das aushalten? Und wenn ja, wie?“

Im nächsten Fließbogen sah der Waldläufer nochmals die blaue Federkugel von einem Ast ins Wasser stürzen, kaum später tauchte der Meisterfischer mit seinem Fang auf und flog davon.

Abermals moderierte Freses Kopf zwischen Anblick und seinen rastlosen Gedanken: Der Eisvogel schillert wie ein fliegender Edelstein, aber seine intensive Färbung ist zugleich die beste Tarnung im Spiel von Licht und Schatten. Es gibt ihn nur auf unverbrauchtem Grund, an einem glasklaren Wasser. Nicht sein Schillern bringt ihn in Gefahr, sondern verdorbene Natur. Was kann das für mich heißen? Lebe nicht getarnt, sondern deine ganze Schönheit?

Oskar Frese holte sich gerne seine Lebensphilosophie aus der Natur. Er pflückte sie sich gewissermaßen aus der Landschaft und trug sie als Sinnsprüche mit sich. Zum Beispiel diesen: „Ein Fisch kann Wunschfisch sein, aber auch ein schlüpfriger Schwärmer.“ Den benutzte er immer, wenn er mit Tim über Charakterbildung sprach und davon, was in jedem von uns steckt.

Endlich war der Waldläufer am Großen Döllnsee angelangt, dort, wo das Döllnlließ in die Schorfheide springt. Im großzügigen Landschaftspark des Hotels hämmerte ein Specht an einer alten Eiche. Oskar Frese war in diesem gediegenen Hotel zum Mittagstisch mit seiner Frau verabredet. Er blickte auf die Uhr, er hatte noch Zeit. Vor ihm lag das helle, ruhige Wasser, ein paar Kinder sprangen lachend vom Steg mit dem berühmten Badehaus. Plötzlich wusste Oskar Frese, wie er seinen Sohn beraten könnte. Er wird diesen Waldlauf am Döllnfließ entlang mit ihm wiederholen, um die Wiederkehr der Stille zu entdecken und seinen Platz darin. Der Junge wird den Wellenschlag des Alltags bestehen, wenn er sich Auszeiten gönnt, um Zeit zu haben, selber zu denken und zu agieren, denn Zeit ist das Zauberwort für Glück.

*** (pe)

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2 Antworten zu Der Waldläufer

  1. Arabella schreibt:

    …erst wenn man alter wird, weiß man um den Reicht der Zeit.
    Eine wunderbare Erzählung.

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